Die Gemeinsamkeit ist der verbindende Moment
im Lesen, Zuhören und Reden.
Wer fühlt sich nicht berührt von einfühlsamen
Geschichten, Gedichte,Versen, besinnlichen
und nachdenklichen Texten?
Nicht nur die Kinder lieben diese,
nein auch wir, die großen Kinder lieben sie - wenn
dadurch ein kleinwenig die Realität eine Pause einlegt!


Der glückliche Prinz und die kleine Schwalben Taube
 

Auf einer schlanken Säule stand die Statue

des glücklichen Prinzen.


Er war über und über mit dünnen  Blättern feinen
Goldes vergoldet, 

er hatte zwei schimmernde Saphire als  Augen, 
und an seinem
Schwertknauf glühte
ein großer roter  Rubin.

Alle Welt bewunderte ihn sehr.  "Er ist so schön wie ein Wetterhahn",
meinte ein Ratsherr, der den Ruf eines Kunstkenners zu erlangen trachtete.
"Nur nicht ganz so nützlich", setzte er hinzu, denn er fürchtete,
die Leute könnten ihn für unpraktisch halten, und das war er keineswegs.

"Warum kannst du nicht sein wie der glückliche Prinz?"
fragte eine empfindsame Mutter ihren kleinen Jungen,
der weinend nach dem Mond verlangte.

"Dem glücklichen Prinzen fällt's nun und nimmer ein,
nach irgend etwas zu weinen."
"Ich bin froh, daß es in dieser Welt doch Einen gibt,
der vollkommen glücklich ist",
flüsterte ein Enttäuschter vor sich hin,
als er zu dem wundervollen Standbild emporschaute.

"Er sieht ganz wie ein Engel aus", sagten die Waisenkinder,
wenn sie in ihren hellen scharlachroten Mänteln und den sauberen
weißen Schürzchen aus der Kathedrale kamen.
"Woher wollt ihr das wissen?" fragte der Rechenlehrer.
"Ihr habt ja nie einen gesehen."
"O doch!
In unseren Träumen", antworteten die Kinder;
und der Rechenlehrer runzelte die Stirn
und machte ein sehr strenges Gesicht, denn er konnte es gar nicht leiden,
daß Kinder träumten.

Eines Nachts nun flog eine kleine Taube  über die Stadt,
ein Taubenschwalbenjüngling.
Seine Gefährten waren schon vor sechs Wochen nach Ägypten gezogen,
er aber hatte gesäumt, denn er war in das hübscheste aller
Schilfrohre verliebt.
Er hatte seine Schöne im jungen Frühling kennengelernt,
als er hinter einem dicken gelben Falter her den Fluß entlangflog, und war
von ihrer zarten Taille so betört gewesen, daß er in seinem Fluge eingehalten
hatte, um mit ihr zu plaudern.

"Soll ich dich lieben? 
"fragte der Taubenschwalbenjüngling, der gern ohne viel Umschweife
zur Hauptsache kam, und die Schöne neigte sich tief vor ihm.
Da flog und kreiste er um sie her und streifte das Wasser leicht mit seinen
Flügeln, daß es sich silbern kräuselte.
Auf solche Art warb er, und es ging so den ganzen Sommer lang.
"Das ist eine lächerliche Liebschaft", zwitscherten die anderen Tauben,
"sie hat kein Geld und viel zuviel Verwandte" -
und in der Tat war der Fluß ganz voller Röhricht.

Dann, als der Herbst kam, flogen die Taubenschwalben alle davon.

Da sie nun fort waren, fühlte der kleine Vogel sich einsam und fing an,
seiner Dame überdrüssig zu werden.
"Man kann sich gar nicht mit ihr unterhalten", sagte er,
"und mir scheint fast, sie ist kokett,
denn allzeit flirtet sie mit dem Wind."
Und wirklich, wann immer der Wind wehte,
grüßte sie ihn mit den anmutvollsten Verneigungen.

"Ich gebe zu, sie ist häuslich", fuhr der Vogel fort, "aber ich liebe das
Reisen, und folglich sollte meine Frau es auch lieben."
"Willst du mit mir kommen?" fragte er sie schließlich;
aber sie schüttelte nur den Kopf,
sie wurzelte allzu fest in ihrem Heim.

"Du hast dein Spiel mit mir getrieben! " schrie er."
Ich mache mich davon nach den Pyramiden.

Leb wohl!"  Und er flog  von dannen.

Den ganzen Tag flog er, und im Abenddämmern kam er in der Stadt an.
"Wo soll ich absteigen?   "sagte er zu sich.
"Hoffentlich haben sie hier ihre Zugrüstungen getroffen."
Dann sah er das Standbild auf der hohen Säule.
"Dort will ich absteigen", rief er, "die Lage ist schön,
und frische Luft gibt‘s da oben genug."
Damit ließ er sich just zwischen den Füßen des glücklichen Prinzen nieder.

"Ich habe ein goldenes Schlafzimmer", sagte der kleine Vogel träumerisch
zu sich selber, als er um sich blickte,
und machte sich zum Schlafengehen bereit;
aber da er eben den Kopf unter den Flügel stecken wollte,
fiel ein großer Tropfen  Wasser auf ihn herab.
"Wie sonderbar!" rief er, "nicht ein einziges Wölkchen steht
am Himmel, die Sterne  scheinen klar und hell,
und dabei regnet es.
Das Klima im nördlichen Europa ist wirklich schauderhaft.
Das Schilfrohr schwärmte zwar für Regen,
aber das war nichts als Egoismus."

Da fiel ein zweiter  Tropfen. 
"Wozu nützt ein Standbild, wenn es nicht einmal den Regen abhalten kann?
  "sagte er, "ich muß mich nach einem soliden Schornsteinaufsatz umsehen",
und er beschloß weiterzufliegen.

Doch ehe er seine Flügel ausgebreitet hatte, fiel ein dritter  Tropfen,
und er blickte auf und sah ... Ah, was sah er?
Die Augen des glücklichen Prinzen waren voll  Tränen, 
und Tränen  strömten ihm über die goldenen Wangen. 
Sein Antlitz war so schön im Mondlicht,
daß Mitleid die kleine Taubenschwalbe erfüllte.

"Wer bist du?"  fragte sie.
"Ich bin der glückliche Prinz."

"Warum weinst du dann?" fragte die Schwalbe,
"ich bin davon ganz naß geworden."

"Als ich lebte und ein Menschenherz  besaß", erwiderte das Standbild,
"wußte ich nicht, was Tränen sind, denn ich lebte im Schloß Sorgenlos,
das kein Leid betreten darf.

Am Tage spielte ich mit meinen Gespielen im Garten,
und des Abends führte ich den Tanz im großen Saale an.

Rings um den Garten

lief eine sehr hohe Mauer;
aber nie kam mir die Frage, was dahinter sein möge,
denn alles um mich her  war so schön.

Die Herren vom Hofe nannten mich den
glücklichen Prinzen, 
glücklich war ich fürwahr, wo fern Freude Glück bedeutet.
So lebte ich,  so starb ich. 
Und nun, da ich tot bin, haben sie mich in solche Höhe hier heraufgestellt,
daß ich alles sehen kann, was häßlich, alles,
was jammervoll ist in meiner Stadt, und wenn ich auch
ein bleiernes Herz  habe - wie sollte ich nicht weinen?"

"Was, er ist nicht aus massivem  Gold?" 
fragte sich die Taubenschwalbe im stillen.
Sie war zu höflich, um irgendwelche anzüglichen Bemerkungen
laut auszusprechen.

"Weit entfernt von hier", fuhr das Standbild mit leiser,
melodischer Stimme fort," weit entfernt von hier in einer kleinen Gasse
steht ein ärmliches Haus.
Eins der Fenster ist offen, und durch dieses Fenster kann ich eine Frau
an einem Tische sitzen sehen. Ihr Gesicht ist mager und verhärmt,
rauh und rot sind ihre Hände und ganz von der Nadel zerstochen,
denn sie ist eine Näherin.
Sie stickt Passionsblumen auf ein Atlaskleid, das die reizendste unter den
Ehrendamen der Königin beim nächsten Hofball tragen will.
In einer Ecke der Kammer liegt ihr kleiner Junge krank im Bett.
Er fiebert und möchte so gerne Orangen.
Seine Mutter aber hat nichts ihm zu geben als Wasser aus dem Fluß,
und deshalb weint er.

"Taubenschwalbe,  Taubenschwalbe
kleine Taubenschwalbe", 
willst du ihr nicht den Rubin aus meinem Schwertknauf bringen?
Meine Füße sind an dies Postament gefesselt,
und ich kann nicht hinab."
"Ich werde in Ägypten erwartet",
sagte die Taubenschwalbe.
"Meine Freunde fliegen den Nil auf und nieder und plaudern mit
den prangenden Lotosblumen.

Bald werden sie im Grabmal des großen Königs schlafen gehen.
Der König selbst liegt dort unten in seinem bunt bemalten Sarge.
Er ist in ein gelbes Leintuch gewickelt und mit Wohlgerüchen einbalsamiert.
Um seinen Nacken schlingt sich eine Kette von blaßgrüner Jade,
und seine Hände sind wie welkes Laub."

"Taubenschwalbe,  Taubenschwalbe
kleine Taubenschwalbe", , sagte der Prinz,
"willst du nicht eine Nacht lang bei mir bleiben und mein Bote sein?
Der Knabe verschmachtet, und der Mutter ist so bang."
"Ich kann Jungen eigentlich gar nicht leiden", entgegnete die Taubenschwalbe.

"An dem Flusse, wo ich vorigen Sommer wohnte,
waren zwei ungezogene Jungen, die Müllerssöhne;
die warfen immerfort mit Steinen nach mir.
Sie haben mich natürlich nie getroffen, wir Taubenschwalben fliegen dafür
viel zu gut, und überdies stamme ich aus einer Familie, die wegen ihrer
Hurtigkeit berühmt ist;
es war aber doch ein Zeichen von Nichtachtung.

  "Aber der glückliche Prinz sah so traurig aus,
daß es die kleine Taubenschwalbe jammerte.
"Es ist sehr kalt hier", sagte sie, "doch ich will eine Nacht lang bei
dir bleiben und dein Bote sein."
"Danke, kleine Taubenschwalbe", sagte der Prinz.
Also pickte die Taubenschwalbe den großen Rubin aus des
Prinzen Schwert, und den Edelstein im Schnabel, flog sie davon,
über die Dächer der Stadt. 

Sie kam am Turm der Kathedrale vorüber, von dem die weißen
Marmorengel niederschauten. Sie kam am Schloß vorüber und hörte den
Lärm des Balles.
Ein schönes Mädchen trat mit seinem Anbeter auf den Altan hinaus.
"Wie wunder reich die Sterne sind", sagte er zu ihr,
"und wie wunder reich ist die Macht der Liebe!"
"Hoffentlich wird mein Kleid rechtzeitig für den Hofball fertig",
antwortete sie.
"Ich habe Auftrag gegeben, daß Passionsblumen daraufgestickt werden;
aber die Näherinnen sind so faul."

Die Taubenschwalbe flog über den Fluß und sah die Laternen an den Masten
der Schiffe hängen. Sie flog über das Getto und sah die alten Juden
miteinander handeln und Geld auf kupfernen Waagschalen wägen.


Endlich kam sie zu dem armen Häuschen und blickte hinein.
Der Knabe warf sich fieberheiß im Bette hin und her,
und die Mutter war eingeschlafen, sie war so müde.
Durchs Fenster hinein hüpfte die Taubenschwalbe und legte den großen
Rubin 
auf den Tisch, neben den Fingerhut der Schlafenden.
Dann umflog sie mit weichen Flügelschlägen das Bett,
und ihre Schwingen fächelten des Knaben Stirn. "Wie kühl mir ist",
sagte der Knabe, "ich glaube, nun werde ich gesund." Und er sank in
einen erquickenden Schlummer.

Darauf flog die Taubenschwalbe  zurück zu dem glücklichen
Prinzen und erzählte ihm, was sie getan hatte.
"Es ist sonderbar", bemerkte sie, "aber mich friert jetzt gar
nicht mehr, obwohl es so kalt ist."
"Das kommt, weil du eine gute Tat getan hast", sagte der Prinz.
Und die kleine Taubenschwalbe begann darüber nachzudenken,
und dann schlief sie ein.
Denken machte sie immer schläfrig.
Als es tagte, flog sie hinab zum Fluß und nahm ein Bad.

"Welch bemerkenswertes Phänomen!"
sagte der Professor der Ornithologie,
der eben über die Brücke ging.

"Eine Taubenschwalbe  im Winter!"

 Bitte streichel mich ...Mit Spannung wie es weiter geht, folgst du mir zur nächsten Seite*lächel*
 
 

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