Die Wassermutter
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Spenderin
des Ursprungs und Lebens
Vorwort:
Vor Angbeginn der Zeit schaute eine Göttin
aus ihrem windumwehten Palast
im Königreich der Lüfte herab.
Sie wollte einen Blick auf die geheimnisvolle
untere Welt erhaschen,
nicht ahnend, dass ihr beschieden war, an der
Erschaffung dieser Welt mitzuwirken.
Während sie das Kind austrug, das sie vom
Wind und Wellen empfangen hatte, trieb die Wassermutter in einem uferlosen
Meer.
Jahrhunderte blieb sie allein, bis ein Seevogel
vom Himmel herabkam
und noch einen Nistplatz suchte.
Ehrfurchtsvoll von der großen Mutter, der
Spenderin des Lebens, war sie eine schemenhafte Gestalt, eine Königin
mit vielen Namen, entrückt wie die Sterne und doch so nahe wie die
großzügige Erde selbst.
Aber sie war nicht nur die Quelle von Liebe und
Leben, sondern brachte anderseits auch Tod
und Verderben. Ihr furchtbarer Zorn entlud sich
in Ungewittern und Seuchen und anderen Katastrophen, sie war launisch,
allmächtig, schnell im Strafen, großmütig im Verzeihen.
Die Erde selbst war vielleicht ihr Körper,
und die Berge waren ihre Brüste, denen nährende
Milch in Bächen und Flüssen entströmte,
die das Meer speisten.
Frühling und Sommer waren die Zeit ihrer
Fruchtbarkeit,
Herbst und Winter die Zeit unverletzlicher Ruhe,
in der sie tief und fest schlief,
gefangen in unergründlichen Träumen,
gleichgültig gegen das Leid der Kinder.
Oder war sie auch nur gedankenverloren und entrückt.
Oft musste man sie anrufen,
ihr schmeicheln – mit dem heißen, süßen
Geruch eines Blutopfers oder der Anbetung
ehrfürchtig aufgerichteter hoher Steinsäulen,
gesichtsloser,
breithüftiger Statuen und heiliger Feuer.
Ihre sichtbaren Verkörperungen waren mannigfach.
Manchmal war sie ein altes Weib,
klug und verhutzelt, dann wieder erschien sie
als schneeweißes Mutterschwein
oder mausgraue Mähre.
Doch eine alte finnische Chronik kannte sie noch
als jugentliche Göttin, die zu einer Zeit
weit vor Beginn aller Zeiten lebte. Sie hatte
zwei Namen, die die zwei Phasen ihres
schattenhaften Daseins kennzeichneten:
Erst war sie die Jungfrau der Lüfte, später
dann die Mutter der Gewässer
oder die Wassermutter.
Ihre Herkunft lag im dunkeln. Man sagte, sie
sei die Tochter des Königs der Lüfte.
Von ihrem Vater und seinem Königreich wusste
man nur, dass er einen Palast hatte.
Empyreum schwebend, hoch über einem unendlichen
Gewässer, war dieser Palast hinter
dem Vorhang des Nordlichts verborgen, ummauert
von Nebel, überdacht von Regenbogen.
Seine achttausend Gemächer hallten wider
von achttausend Arten der Leere,
seine funkelnden Fenster schauten ins Nichts,
und seine Gänge zogen sich endlos hin,
trafen und verzweigten sich, wurden bald breiter,
bald schmäler, und ihre
fernen Enden lagen irgendwo in der Unendlichkeit.
Dies war das Vaterhaus der Jungfrau der Lüfte.
Wie sie lebte, wovon sie sich nährte, welche
Sprache sie sprach, über dies alles
konnten die Menschen nur Vermutungen anstellen.
Aber man wusste, dass sie unstet war
wie der Wind, der durch die spiegelnden Säle
des Palastes wehte.
Und eines Tages sprang sie –oder
vielleicht fiel sie, wurde womöglich gar von einer
unsichtbaren Schicksalsmacht gestoßen
–
– durch eine riesige
Tür oder ein Fenster ins Leere hinaus.
Sie stürzte durch bodenlose Wolkenhöhlen.
Wenn sie schrie, muß es durchs Universum
widergehallt haben, denn sie war eine Riesin
von unvorstellbarer Größe.
Doch die Windströmungen fingen sie auf wie
eine federleichte Haarlocke und trugen sie
behutsam hinab zu dem warteten Ozean.
Als sie langsam die Schaumkronen entgegenfiel,
schäumten die Wellen auf und reichten empor,
um sie aufzufangen. Eine Zeitlang warfen die
beiden Elemente sie zwischen sich hin und her.
Die See hob sich hoch, den Liebkosungen des Windes
entgegen, und entzog sie ihnen
dann jäh wieder.
Doch bald schon wurde aus dem Spiel zwischen
Wind und Wasser tödlicher Ernst.
Der Ozean wallte in zornigen Wogen auf, der Wind
schwoll zu einem wütenden Sturm an
und peitschte die Wellen zu einem Strudel. Die
beiden widerstreitenden Mächte kämpften
erbittert um sie, ihre verzweifelten Schreie
nicht achtend.
Der Malstrom beruhigte sich, das Toben des Windes
ebbte ab.
Bald gab es nur noch Stille.
Die Riesin schwamm im Wasser, ihrer Jungfräulichkeit
beraubt. Ihr Leib schwoll von
dem neuen Leben, das tief in ihrem Inneren wuchs,
dort eingepflanzt durch das
ungestüme Liebeswerben der beiden Rivalen
Sturm und Ozean.
Nun begann die Zeit des Austragens.
Während sie darauf wartete, dass diese mysteriöse
Frucht reifen möge, schwamm sie
durch das Wasser, und von diesem Punkt der Geschichte
an nannten die
Barden sie die Wassermutter.
Kreuz und quer schwamm sie, doch sie fand nichts
als Ozean.
Um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen,
drehte sie sich manchmal um und
schwamm auf dem Rücken, schaute hinauf zu
ihrem Vaterhaus im Reich der Lüfte.
Aber sie war so tief gefallen, dass der Palast
ihren Blick entzogen war.
Falls ihr Vater, der ferne König der Lüfte,
von ihrer misslichen Lage wusste,
ließ er es durch nichts erkennen.
Als Göttin und Unsterbliche hatte die Wassermutter
natürlich kein Gefühl für die Zeit.
Es steht jedoch geschrieben, dass sie nach menschlichen
Begriffen siebenhundert Jahre
so mit ihrem gewölbten Leib im Wasser schwamm.
Jahr für Jahr, Jahrhunderte trieb sie erst
nach
Osten,
dann nach Westen,
dann nach
Norden,
dann nach Süden.
Manchmal schlug sie um sich, voller Unruhe und
Überdruß. Doch meist schwamm
sie in Trance dahin und nährte das Kind
in ihrem Schoß mit dem Blut ihres Lebens
und ihrer göttlichen Kraft.
All diese Jahre wartete sie, in sich selbst ruhend,
ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre
Kräfte nach innen gerichtet, nachdenkend
über die Mysterien des reifenden Lebens.
Es kam der Augenblick, da sie nicht mehr allein
war.
Aus dem Nichts oder aus einer anderen, belebteren
Sphäre,
wo Gottheiten tanzten und zauberten, erschien
ein geflügelter Bote:
Ein riesiger Seevogel, mit bunt gestreiften und
getupften Gefieder.
Der Vogel stieß pfeilschnell herab und
strich dicht über das Wasser, stieg wieder auf
und stieß abermals herab, denn er suchte
verzweifelt nach einem Platz zum Landen.
Die Mutter der Gewässer sah seine müden
Flügelschläge.
Sein helles Perlenauge fand das ihre.
Und zwischen ihnen entsprang sogleich ein Gefühl
wortloser Verständigung,
ein stillschweigendes Übereinstimmen zwischen
einem Gott und einer Göttin.
Darauf hob die Riesin eines ihrer Knie
aus dem Wasser.
Der Vogel kreiste, stieß einen gellenden,
einsamen Schrei aus und ließ sich leicht
auf der großen, glatten Kuppel nieder.
Trotz seiner Größe und der gewaltigen
Spannweite der Flügel war der Seevogel winzig
im Vergleich zur Kniescheibe der Wassermutter.
Der Vogel stand einen Moment still,
setzte sich dann und fing an, ein Nest aus seinen
eigenen weichen Federn zu bauen,
als wäre er überzeugt, nun endlich
nach langer Suche den vollkommenen Ort für sein
Gelege gefunden zu haben.
Die Wassermutter ließ sich treiben und
sah ihm gelassen zu.
Als erstes legte der Vogel ein goldenes Ei,
glatt und glänzend.
Dann entschlüpfte ihm ein zweites,
so golden wie das erste und so rund wie der Bauch
der Göttin.
Dann kamen ein drittes,
ein viertes,
ein fünftes
und schließlich ein sechstes
ans Tageslicht,
und sie alle glichen einander vollkommen.
Zuletzt brachte der Seevogel ein siebtes Ei hervor,
das sich von den anderen unterschied: ein dunkles,
schweres Ei aus Eisen,
ebenso matt und grau, wie die anderen hell und
glänzend waren.
Hätte bis dahin noch irgendein Zweifel bestanden,
dass der Vogel eine Sphäre außerhalb
des gewöhnlichen reiches der Natur entstammte,
so hätte diese seltsame Lebensfrucht
jeden Zweifel entgültig beseitigt.
Der Seevogel sträubte sein Gefieder und
begann, auf dem Knie der Wassermutter
seine Eier auszubrühten,
die es warm hatten und vor der Kälte des
Wassers geschützt waren.
Ob es zwischen dem Vogel und der Riesin zu einer
Veständigung kam,
wird nicht berichtet, aber sie leisteten einander
Gesellschaft in dieser Zeit stillen Wartens.
Dann ging diese Zeit des Friedens allmählich
zu Ende. Das Gelege war anfangs so
kalt gewesen wie die Metalle, aus denen die Eier
bestanden.
Doch nun, da sie bebrühtet wurden, erwärmten
sich die Eier.
Dann wurden sie allmählich heiß und
immer heißer. Schon bald glühten sie rot,
dann wurden sie weißglühend und verbrannten
das glatte Knie der Wassermutter.
Mochte sie auch eine Göttin sein, so war
sie doch nicht unempfindlich gegen Schmerzen.
Mit einem Schrei, der die Luft zerriß,
bäumte sie sich in ihrer Qual mächtig auf.
Durch die krampfhaften Zuckungen ihres Körpers
wurde das Wasser zu
großen Flutwellen aufgewühlt, und
die sieben glühenden Eier glitten eines nach dem
anderen aus dem Nest und rollten von ihrem Knie.
Als sie auf die Oberfläche des
Ozeans aufprallten, barsten sie in tausend Stücke.
In ihn ihrer Not sah sich die Mutter der Gewässer
nach dem Seevogel um.
Aber der geheimnisvolle Vogel war so plötzlich,
wie er erschienen war,
wieder verschwunden.
Dann geschah etwas Wundersames.
Die Bruchstücke der Eier begannen aus dem
Wasser aufzusteigen.
Nicht ein Stückchen Schale,
nicht ein Tropfen vom Inhalt waren verlorengegangen.
Aus der Hälfte der schillernden Schalentrümmer
kam die Erde selbst, aus dem Rest
das Himmelszelt, das sich über ihr wölbte.
Gelber Dotter strahlte als Sonne,
aus dem Eiweiß enstand der Mond,
und aus den kleinen Splittern, die in die Höhe
stiegen,
wurden die Sterne
und die Wolken.
Die dunklen Überreste des eisernen Eies aber
wurden in Unwetter verwandelt,
die den Himmel verdüsterten.
Die Wassermutter trieb weiter auf dem Meer, hochschwanger
und träge.
Aber jetzt wärmte sie die Sonne, und der
Mond erhellte ihre Nächte.
So getröstet, begann sie wieder zu träumen.
Unendlich sah sie die Sonne aufgehen,
unendlich oft sah sie, wie der Mond das Tageslicht
ablöste.
Das ungeborene Kind blieb in ihrem Inneren.
Vom Sonnenball gewärmt, von den mondabhängigen
Gezeiten bald hierhin getrieben,
spürte die Wassermutter, dass ihre Zeit
allmählich herannahte.
Sie folgte dem Beispiel des Seevogels
und begann, ein Nest für ihre eigenen Kinder
herzurichten.
Sie hob den Kopf und blickte sich um.
Sie streckte ihre riesige Hand aus, und wohin
ihre gewaltigen Finger zeigten,
erhoben sich allenthalben Landzungen, Klippen,
Küsten und Vorberge aus dem Wasser;
das unendliche Meer wurde nun von einer Küste
umpfangen.
Sie streckte ihren mächtigen Arm aus und
formte mit der flachen Hand die Sandstrände,
die Dünen dahinter, die Ebenen und sanften
Anhöhen, die höhreren Hügel und schließlich
noch die gewaltigen Berge.
Mit den Fingernägeln zeichnete sie Muster
ins Antlitz der Berge,
kratzte Schründe, Spalten
und Schraffuren in den Fels.
Als diese Arbeit getan war, tauchte die riesige
Göttin kopfüber in die See ein, und
das Wasser spritzte fast bis zu dem neugeschaffenen
Himmel auf. Tief unten im Wasser
erreichte sie den Meeresgrund, öffnete unterseeische
Klüfte und Grotten, die als Zuflucht
für kleinere Fische
und als Verstecke für größere
Fische dienen sollten, die Jagt auf die
kleinen machen würden.
Sie pflanzte Inseln, große und kleine,
und Felsen, die aus dem Wasser ragten, und
verborgene Riffe, die den Seefahrern, die sich
dereinst auf das Meer hinauswagten,
zum Verhängnis werden sollten.
Schließlich riß sie Steine aus dem
Meeresgrund und drehte und formte sie mit ihren
kraftvollen Händen, um aus ihnen die vier
massiven Säulen zu bauen, die für immer den
Himmel über dem Land halten sollten. Dann
hielt sie inne und sah sich um und lächelte,
als wäre sie zufrieden mit dem, was sie
sah. Ihr Schöpfungswerk war vollendet.
Plötzlich spürte sie heftige Bewegungen
in ihrem Schoß.
Das Kind, das sie solange getragen hatte, wurde
ungeduldig in ihrem Leib.
Seine Zeit war gekommen, ein Teil der Welt zu
werden, die seine Mutter geschaffen hatte.
Sie stöhnte, als sie spürte, wie es
trat und sich tief in sie hineinwühlte, gegen ihre Knochen hämmernd,
als handelte es sich um die Eisenstangen eines Käfigs, aus dem es
hinauswollte. Keuchend bäumte sich die Mutter der Gewässer auf,
und ihr Kind schob sich hinaus,
der Freiheit und dem Licht entgegen.
Als alles voller Blut und Gischt, und das Wasser
schäumte gewaltig auf, und dann war alles
schwarz und finster, als die Geburtswehen der
Göttin endeten.
Nun blickte die Wassermutter ins Meer hinab und
sah ihren neugeborenen
SOHN – VÄINÄMÖINEN.
So lange hatte er in ihrem Körper verweilt,
daß er zu voller Erwachsenengröße
herangewachsen war. Vom Augenblick seiner Geburt
an besaß er Weisheit, eine gefurchte
Stirn und einen langen, ehrwürdigen weißen
Bart.
Niemand wusste zu sagen, wie die Mutter ihren
Sohn begrüßte. Aber es war ihr ganz recht,
dass sie ihn als Erwachsenen bekommen hatte,
der kein Stillen, kein Wickeln, keine Pflege,
keine Unterweisung brauchte. Denn es gab auch
wahrscheinlich genug zu tun.
Die Mutter der Gewässer hatte die Welt geschaffen,
aber sie überließ es ihrem Sohn,
die Welt zu bedecken, zu gestalten und mit Leben
zu versehen.
Und so trieb die Göttin auf den Wassern,
der wohlverdienten Ruhe pflegend, und sah
ihrem Sohn Väinämöinen zu, wie
er seine Muskeln spannte,
seinen Verstand prüfte und seine Kräfte
sammelte.
Sie sah, wie er Gräser und Samen hervorbrachte,
Wiesen, Früchte und blühende Bäume.
Er füllte das Meer mit Lebewesen und bevölkerte
das Land.
Er setzte Bäume auf die Hänge der Berge,
pflanzte Heidekraut zwischen die Felsen,
Kirschbäume dorthin, wo der Boden saftig
war,
den Wacholder mit seinen glänzenden Beeren
auf sandigen Grund,
Ebereschen an heilige Plätze,
Weiden an die Flussufer,
hohe Eichen in die Haine und grünes Buschwerk,
das Nahrung und Brennstoff und Schutz bieten
würde,
an die Orte, wo die Menschen, die er schuf, leben
würden.
Und er, Väinämöinen, Sohn der Wassermutter,
würde der erste unter ihnen sein,
der erste Bauer,
der erste Förster,
der erste Gärtner
und vor allem der erste Dichter
und Geschichtenerzähler,
der die Erinnerung der Welt für alle Zeiten
bewahren würde.
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zu Bildergrafiken 1999 - 2009 by Chr.
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