Heute war Heiligabend.
Es
war schon recht spät, und nur noch wenige Menschen waren auf der Straße
zu sehen.
Sie hatten keine Augen für das kleine Mädchen mit den lustigen blonden
Zöpfen, denn sie wollten alle nach Hause in die warme Stube zum
Weihnachtsabend.
Ulrike
wusste nicht, wohin sie gehen sollte.
Sie
hatte keine Eltern mehr, und ihre Tante hatte nie ein gutes Wort für
sie.
Tag
für Tag schalt sie das kleine Mädchen und ließ es die schmutzigsten
Arbeiten machen.
Mancher
Monat und manches Jahr waren so vergangen, bis es Ulrike nicht
mehr ausgehalten
hatte. Heute Mittag, als sie im verwahrlosten Haus der Tante den Keller
putzen
sollte, war sie davongelaufen.
Doch
wo sollte sie jetzt hin?
Sie
kannte niemanden in der großen Stadt, und sie hatte sich verlaufen.
Sie bog aus dem Glanz der
festlich
erleuchteten Hauptstrasse ab und ging in eine Hofeinfahrt, aus der es
gut roch.
Ach ja, Hunger hatte sie allmählich auch bekommen.
Seit dem Morgen hatte sie
nichts mehr gegessen.
Und hier roch es so gut.
Sie
kam auf den Hinterhof einer Pizza-Bäckerei.
Aus
dem Küchenfenster drangen vergnügte Stimmen,
ein unbeschreiblich schöner
Duft und – Wärme
.
Sie
kuschelte sich ganz eng an die
Hauswand, die hier etwas Wärme abgab,
zog
ihren Mantel noch fester um sich und
begann zu träumen.
Sie
sah sich in einem großen Haus mit vielen anderen
Kindern.
Es war warm, und aus der Küche
duftete es nach Weihnachtsgebäck.
Überall
standen
Kerzen, und die Wände
waren mit wohlriechenden Tannenzweigen
geschmückt.Plötzlich
ging vor ihr eine Tür auf, und
sie stand im Weihnachtszimmer vor dem hell strahlenden Weihnachtsbaum.
Der Kerzenschein blendete sie.
Unter dem Baum war eine wunderschöne
Krippe aufgebaut.
Maria und Josef standen um die kleine Krippe, in der das
Christkind lag, und schauten dankbar hinein.
Dann erklang Musik.
"Vom
Himmel hoch,
da komm ich her …“, sang ein Kinderchor.
Plötzlich rief eine schrille Stimme:
"He, Ulrike, du elendes, faules Kind!
Geh
an deine Arbeit! Sofort!"
Und
eine Hand griff von hinten an ihre Schulter und zerrte sie grob aus dem
Weihnachtszimmer.
Immer
wieder und wieder schüttelte die Hand das Kind, und eine Stimme rief:
"He,
aufwachen, Kleine!"
Da wachte sie aus ihrem
Traum auf und sah
vor sich einen alten Mann mit einem weißen Bart, einem abgetragenen
Mantel,
ausgetretenen Schuhen und einem verrotteten Sack auf der Schulter. Der
Mann
schaute sie freundlich an und fragte sie: "Sag mal, Kleine, ist das der
richtige Ort für ein kleines Mädchen am Heiligabend?" Ulrike war
zunächst
zu verwirrt, um antworten zu können, denn sie war noch nicht richtig
aus ihrem
Traum aufgewacht.
Dann fragte sie: "Wo bin ich
denn? "Der alte Mannn lachte und sagte: „So, wie das
aussieht, liegst du
hier genau auf meinem Platz."
Ulrike fragte erstaunt:
"Auf Ihrem Platz? Was ist das für ein Platz?"
Der alte Mann erklärte
ihr, daß er keine Wohnung habe und deshalb meist im Freien
schlafen würde. Er
sei ein Stadtstreicher, einer, der nirgends und überall zu Hause sei.
Im Winter würde er nachts immer hierherkommen,
weil es hier gut warm sei und weil die freundlichen Pizza-Bäcker ihm
ab und zu
etwas zu essen geben würden.
Dann fragte er das kleine
Mädchen:
"So, kleine Dame!
Jetzt möchte ich zu gerne deine Geschichte hören!
Wo kommst du her?
Bist du von zu Hause weggelaufen? Wo
willst du hin?"
Ulrike
erzählte ihm ihr Schicksal, und der
alte Mann wurde im Laufe der
Geschichte
immer stiller.
Als
Ulrike fertig war, sagte er:
"Jetzt mußt du erst einmal etwas essen und trinken.
Sonst klappst du noch
zusammen.'"
Er zog aus dem schmuddeligen Sack eine
Flasche Rotwein und eine Pappschachtel,
aus der ein Stück Kuchen zum Vorschein kam.
"Eigentlich sollte der Kuchen für
mein Weihnachtsmorgen-Frühstück sein, aber ich glaube,
du wirst ihn jetzt schon mögen."
Ulrike aß begierig das
Kuchenstück auf.
Jetzt war ihr wieder etwas wohler.
"So, jetzt gibt's noch
einen kleinen
Schluck zu trinken", sagte der Alte und entkorkte die Rotweinflasche.
"Aber nicht zuviel, sonst wirst du
noch betrunken."
Ulrike trank aus der Flasche einen
kleinen
Schluck.
Wohlige Wärme rieselte durch ihren
Körper.
Sie
begann, dem alten Mann ihren Traum zu
erzählen. Still hörte der
Alte zu.
Nur manchmal nahm
er auch einen kleinen Schluck aus der Flasche.
Als Ulrike ihren
Traum fertig erzählt
hatte, sagte er: "Ich glaube, ich weiß,
wovon du geträumt
hast. Komm mit!"
Er
packte seine Sachen
wieder in den Sack, schwang ihn auf die Schulter,
nahm Ulrike bei der Hand und ging mit ihr zurück auf
die Hauptstraße.
Mittlerweile
war dort außer ihnen niemand
mehr zu sehen.
Der
nasse Straßenbelag glitzerte von frischgefallenem Schnee,
und in den
Pfützen
spiegelten
sich Tausende von Glühbirnen.
So gingen der alte Mann und das kleine Mädchen die
Straße eine ganze Strecke hinab,
bis sie schließlich nach
links in eine Seitenstraße einbogen.
Dann
ging's noch einmal nach rechts, und plötzlich blieb der Alte vor einem großen Haus stehen, aus dem
muntere Kinderstimmen
zu hören waren.
Er ging auf die große Tür zu und drückte
auf den Klingelknopf.
Eine freundliche Nonne öffnete die Tür
und fragte, was sie tun könne.
Der Alte schickte die kleine Ulrike ins
Haus und zog die Nonne auf die Seite.
Dann erzählte er ihr schnell die Geschichte von Ulrike und von
Ulrikes
Traum.
Als er geendet
hatte, sagte er noch: "... und fröhliche Weihnacht!" und
lief davon.
Ulrike
war mittlerweile in den großen
Vorraum gegangen, wo viele Kinder herumliefen und fröhlich miteinander spielten.
Irgendwie kam ihr
das hier ganz bekannt vor. Sie ging ganz vorsichtig auf eine
große
Tür zu, öffnete sie und wollte glauben, daß sie wieder träumte.
Vor ihr stand ein wunderschön geschmückter
Weihnachtsbaum, und darunter - ja,
es war
nicht zu glauben -, darunter war eine Krippe
aufgebaut
mit Maria, Josef und dem
Christkind.
Sie bemerkte nicht, wie sich allmählich
der Raum füllte.
Viele Kinder standen um sie herum, und plötzlich stimmten sie das Lied an,
das Ulrike in
ihrem Traum gehört hatte:
"Vom Himmel hoch, da komm
ich her. "
Sie schaute um sich und
sah viele
strahlende Kindergesichter und hinter ihnen
die
freundliche Nonne.
Das
konnte kein Traum sein. Das mußte
wahr sein.
Sie
sang das Lied bis zur letzten Strophe
mit, und dann kam die Ordesschwestern
auf sie zu und erzählte ihr von dem alten Mann und was er
über Ulrike erzählt hatte.
Da fiel dem kleinen Mädchen plötzlich
wieder der freundliche alte Mann ein.
Sie rannte aus dem Zimmer,
durch die Halle hin zur Eingangstür,
riß
sie auf und rannte hinaus in die finstere Nacht.
Der Schnee ging ihr jetzt schon bis an die Knöchel, und
die Schuhe waren bald durch näßt. Sie merkte es nicht und rannte
und rannte, so schnell sie nur konnte.
Es war nicht leicht für sie, den Weg in
den Hinterhof der Pizza-Bäckerei zu finden,
aber sie schaffte es.
Dort saß er mit dem Rücken an die warme
Hauswand gelehnt, der alte Mann,
und sah sie erstaunt an.
"Wo kommst du denn her?"
Ulrike war zunächst zu
sehr außer Atem,
als daß sie dem alten Mann hätte antworten können,
aber dann sprudelten ihr die Worte aus dem Mund.
Sie erzähIte von dem Haus, von dem Weihnachtsbaum, von den
Kindern,
mit denen sie gesungen hatte,
von der Nonne und davon, wie sie ihn,
den alten Mann, vergessen hatte.
Noch
einmal gingen Ulrike und der alte
Mann den Weg zu dem größen Haus,
das
ein Kinderheim war, und dieses Mal durfte der alte Mann
mit
hineinkommen und Weihnachten feiern.
Es
war für Ulrike das schönste Weihnachtsfest, das sie je
gehabt
hatte.
Sogar
einige kleine Geschenke bekam sie, und das schönste von allen,
eine
Kette mit einem
kleinen Anhänger, schenkte sie dem alten Mann.
Die
Nonnen boten nach der Weihnachtsfeier
dem Alten an,
für
immer bei ihnen zu bleiben und leichte Arbeiten im Haus zu übernehmen,
aber
er
lehnte dankend ab. Für ihn war es nichts, den ganzen Tag eingesperrt zu sein.
Er
brauchte seine Freiheit und wollte
wieder hinaus.
Der
Abschied von Ulrike fiel zwar schwer, aber er konnte nicht anders.
Nach den
Weihnachtsfeiertagen war er
plötzlich verschwunden.
Ulrike blieb bei den
Nonnen.
Sie lernte
fleißig in der Schule und wurde ein hübsches und gescheites
Mädchen.
Sie dachte oft an den alten Mann
und ihren Weihnachtstraum zurück und hoffte,
den Alten irgendwo einmal wiederzusehen.
Aber das gelang ihr nie.
1999
- 2010 by Chr.Vivien