Ein
Baum, möglicherweise
auch der Deine
Ich erfand einen Baum,
einen großen
Baum,
größer
als ein Mann,
größer
als ein Haus,
größer
als die letzte Hoffnung.
Jahrelang
wohnte ich in seinem Schatten
und wartete auf ein Wort.
Ich sang ihm Lieder,
umarmte ihn,
kratzte an seiner rauhen Rinde.
Mein
Lachen brach Blüten aus seinen Zweigen,
jede meiner Bewegungen lockte
neue Blätter und Früchte hervor ...
Er
war mein wie nie zuvor etwas mein war
doch er sprach nicht mit mir.
Ich
lauschte auf seine Geräusche,
ich hörte sein Schmetterligsrauschen
und sein Urwaldkrachen,
ich erträumte mir seine Stimme wie süßes Singen,
doch er sprach nicht mit mir.
Nächtelang
weinte ich zu seinen Füßen,
an die Wurzeln gekauert,
ich fühlte seine Arme
und sah ihn hoch über mir,
ich wußte, daß er mich dachte.
Doch
er sprach nicht mit mir ...
Ich lernte singen wie ein Vogel,
leuchten wie ein Glühwürmchen,
wiehern wie ein Pferd.
Von
Zeit zu Zeit übermannte mich der Zorn, so daß
alle seine Blüten fielen
und er nackt dastand und beschämt
denn ich hoffte, er würde vielleicht
wenn nicht im Guten, so im Bösen lernen
wie manche Männer.
Doch er sprach nicht mit mir.
Ich
lernte so viele Sprachen für ihn,
ich entkleidete mich so vieler anderen Dinge,
daß ich vergaß wie ich hieß
und woher ich kam,
bis ich nicht mehr wußte,
ob ich Tier war oder Mensch
und stumm und immergrün
- voller
Hoffnung -
hängen blieb in seinen Zweigen.
Erinnerung
Verstreut
lagen
die Blüten des großen Baumes,
dessen Namen ich nicht kenne,
des Baumes der rot aufblüht
am Abend,
an diesen herrlichen Abenden da die Erinnerung an dich
so wie die roten Blüten
auffliegen über
Dächer und Menschen,
sich niederlassen auf Wassergräben,
auf der Zeit,
oder in jenen Brunnen, mein
geliebter,
in jenen Brunnen ...
Verwandlung
Die
Kletterpflanze
kriecht mir zu den Ohren heraus.
Meine
Augen haben sich in schwankende
Staubblätter verwandelt,
mein Mund ist voll
von violetten
Blumen.
Wenn
ich gehe
verstreue ich Blätter
über das Haus.
Alles
im Raum ist meinen Zweigen im Weg,
überall verfange ich mich,
sogar meine Nase
ist grün geworden,
mein Duft anders,
ich stoße mich an den Möbeln,
meine Beine brechen die Fliesen auf,
dringen in die Erde ein
und verwurzeln.
Mein
Haar läßt keine Bewegung mehr zu,
es hat sich an die Wände geheftet,
die Arme sind verschwunden,
nur Finger habe ich noch,
und mein Körper
ist zum Stamm geworden.
Mit
meinen Fingern
berühre ich mich
von allen Seiten,
erkenne mich wieder
in Blättern
und Zweigen
und den Blumen, die in meinem Mund sind
und meine Zähne färben.
Meine
Finger streichen an mir entlang,
und wo sie mich berühren,
wachsen Zweige,
und endlich,
nach viel Widerstand,
werden die Finger weich,
Knospen sprießen
aus den Fingerkuppen.
Mein
Mund
voller lila
Blüten
hat meinem Körper beredet,
ich bin verwandelt
in eine Kletterpflanze,
stachlig,
allein,
Natur
geworden.
Wenigstens
Blumen,
wenigstens
Lieder
Von
uns bleiben - mehr
als Worte
oder Gesten:
der glühende
Wunsch
nach
Freiheit,
ansteckende Sucht.
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1999 - 2009 by Chr.Vivien